- 50 lines of mine

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Der Himmel wohnt anderswo




Mein Bruder Gabriel starb in der Nacht vom
30. auf den 31. März 2010

Ich habe immer geahnt,
dass du gehen würdest,
nur das Wann
habe ich nicht gekannt.

Doch ich hatte außer Acht gelassen,
dass du nie wieder kommen würdest...



19. August 2011
Am 15. August in diesem Jahr wärst du 50 Jahre alt geworden. Ich habe den ganzen Tag an dich gedacht, überlegt, ob ich weinen sollte, doch die Tränen blieben an diesem Tag fern. Es war ein guter Tag. Eine Freundin war hier und  wir haben uns nett unterhalten, einen Film gesehen. Ich habe dich und deinen Geburtstag kurz erwähnt, dabei in den Garten gestarrt. Sie hat nichts gesagt, so ließ ich das kurz erwähnte Thema sofort wieder fallen. Keine Trauer, schwor ich mir. Nicht jetzt, nicht heute.  Später schon, wenn sie wieder kommt. Sie kommt immer wieder.

Trauer ist unaufhaltsam. Sie schleicht sich um Ecken oder versteckt sich, ohne dass ich sie sehen, spüren kann. Plötzlich ist sie da. Setzt zum Angriff an. Verschlingt mich für einen kurzen Augenblick und hält mich gefangen mit einer immensen  Kraft. Sie durchbohrt meine Seele, meinen Körper, mein Herz, frisst mich an, frisst alles in mir auf. Sie ist dann wie ein riesiger Dämon, der sich aus der Finsternis vor mir aufbäumt, mich zu Boden reißen will, schwarz, dunkel, trübe. Ich  lasse mich von dieser Trauer tragen, ein Stück mitnehmen in das tiefe Tal der Leere. Löse mich dort in einem See der Tränen auf, gewähre den rabengleichen Flügelschlägen eines Totenvogels eine kurze Macht.
Ich bin dann nicht ich, sondern eine weinende Mähre ohne Halt. Niemand wird mich trösten, niemand wird mir helfen, niemand wird mich heilen. Nicht, weil es niemanden gibt, der diese Aufgabe übernehmen würde, sondern weil ich niemanden so nah  bei mir ertragen könnte und weil ich überzeugt bin, dass ich diesen Weg der Trauer alleine beschreiten muss. Es ist mein Weg und ich kenne ihn. Warum ich das weiß, weiß ich selbst nicht. Aber so ist es.

Erst heute, über ein Jahr nachdem du gestorben bist, fange ich an dir zu schreiben. Ich hätte das längst tun sollen, denn ich trage soviel in mir, soviel, was ich dir sagen will, soviel, was nie zwischen uns ausgesprochen wurde, soviel, was du  mir gesagt hast, soviel, was du auf meine Schultern gelegt und nie wieder fortgenommen hast. Dort ruht es nun und meine Schultern sind krank.

Als ich erfuhr, dass du gestorben warst, konnte ich es nicht glauben. Unsere Mutter rief mich unter Tränen an. Sie schluchzte und weinte ins Telefon: „Gabriel ist tot!" Es war ein Donnerstagvormittag. Du warst bereits in der Nacht von Dienstag  auf Mittwoch gestorben. Allein. In deiner Wohnung in Münster.
Meine ersten Reaktionen auf diese Nachricht bestanden darin, dass ich zur Salzsäule erstarrte und immer wieder diesen einen Satz wiederholte: „Gabriel ist tot. Mein Bruder Gabriel ist tot." Dann sprang ich verzweifelt auf, irrte kopflos durch  das Haus und wiederholte in einem ständig wiederkehrend Rhythmus: „Er ist tot. Er ist einfach tot. Mein Bruder ist tot."

Dein Tod hat einen schweren Schock in mir ausgelöst. Wie schwer, habe ich bis heute noch nicht so richtig begriffen. Damals schwappte die Trauer wie ein Tsunami über mich herein, zog mich in einer Riesenwelle mit sich, überspülte alles und ließ  nur einen großen Haufen Schutt und Verwüstung übrig. Nachdem der erste Sog vorüber war, folgten etliche kleine Wellen hintenan. Sie brachen über Tag oder mitten in der Nacht herein. Ich war auf einmal nicht mehr sicher. Ob im Sportstudio  oder im Einkaufsladen, ob im Auto oder vor dem Fernseher, die Tränen brachen aus mir heraus, wie Wasser aus einem aufgedrehten Wasserhahn. Nachts wurde ich durch sinnlose Träume und noch mehr Tränen geweckt. Mein Kopf ruhte auf einem nassen Kissen,  morgens starrten mir im Spiegel verquollene Augen entgegen.
Meine Freunde und Bekannte standen reihenweise für Beileidsbekundungen an der Tür. Ich schickte sie fort. Ich konnte weder sprechen noch antworten. Ich stammelte: „Danke" oder „Später mal" oder „Ich kann nicht reden." Manche  schrieben liebe Briefe. Ich las jeden einzelnen, durchnässte das Briefpapier mit kullernden Tränen und wusste, das eine wie das andere bringt mir dich nicht zurück.

Meinen Verlust beschrieb ich gegenüber meinen Freunden leicht makaber: „Ich fühle mich, als ob ich einen zusätzlichen Arm oder ein drittes Bein verloren hätte, etwas, das ich nie besessen habe." Keine Ahnung, ob das jemand überhaupt  verstanden hat. Du hast mir so gefehlt, als du gestorben bist, obwohl ich dich schon lange vorher verloren hatte.
Wann? Das weiß ich nicht genau. Irgendwann zwischen meinem 8. und 40. Lebensjahr vielleicht?

Ich glaube, dass du mich, als ich 29 Jahre war, noch gut leiden konntest. Als Beweis dafür betrachte ich ein  Foto von uns beiden, auf dem du mich im Arm hältst und mich glücklich anstrahlst. Aufgenommen wurde es auf einer der legendären Ranchpartys.
Damals schien alles noch im grünen Bereich zu sein: Der große Bruder hält seine kleine Schwester  im Arm.
Auf diesem Foto sehen wir uns unglaublich ähnlich. Ich denke oft, wir hätten Zwillinge sein können. Zu diesem Zeitpunkt waren wir beide groß und schlank. In unseren markanten Gesichtern prangen die legendären Familiennasen. Uns  als hübsch im Sinne des Durchschnittverbrauchers zu bezeichnen, wäre unpassend, aber du und ich, wir sind Menschen, die durch ihr Wesen andere zum Bleiben oder Wiederkehren anregen. An Gesellschaft hat es dir und mir nie gemangelt.

Wie sehr sich dein Leben in den letzten Jahren, als ich keinen Kontakt mehr zu dir hatte, veränderte,  erfuhr ich erst, nachdem ich deine vom Tod erkaltete Haut berührt hatte. Du warst ein anderer Mensch geworden oder eine andere Seite an dir hatte Überhand genommen und dich mitgezogen, hinabgespült in ein tiefes Loch.

Mein Leben verbringe ich schon lange ohne dich. Eine Zeitlang habe ich es mit dir versucht. Aber wie in der  Kindheit, ist es mir auch in meinem Erwachsenendasein nie geglückt, mit dir zufrieden vereint unter einem Dache zu leben. Wann immer ich dir zu nahe war, hast du begonnen mich zu verschlingen.

Du verlangtest Dinge von mir, die ich nicht gewillt war, dir zu geben oder zu leisten. Du versuchtest mir permanent deine  Ansichten und Meinungen überzustülpen und schautest nie darauf, wer oder was ich war oder sein wollte. Ich wurde von dir kritisiert, manipuliert, korrigiert, aber gleichzeitig wolltest du aus dem Teil meines Wesens, der mich ausmacht, Mentales oder  Bares herausquetschen. Dinge, die ich mir schwer erarbeitet hatte und die nur existierten, weil ich so bin, wie ich bin.

Du warst ein Allesverschlinger, ein Allesesser, ein Manipulator, ein Ignorant. Neben dir sollte ich geringer,  kleiner, wertloser sein. Du wolltest mich führen, leiten lenken. Meine Ziele bestimmen.

Als wir sehr klein waren hast du ständig irgendeinen Unsinn angestellt, so dass sich alle Aufmerksamkeit  auf dich bezog. Ich verschwand neben dir, musste leise treten, Rücksicht nehmen, keine Probleme bereiten, denn es gab ja dich, der alle Welt in Atem hielt.

Heute weiß ich, dass mein Denken zu dieser Zeit das Denken eines unbeachteten Kindes in einer schrecklichen  Familie war. Es hat Jahre gedauert, bevor ich begriff, was mit dir und mir passierte. Ich begriff es zu spät. Wir waren in einen Sog geraten, der uns in ein Verhältnis aus Liebe und Hass katapultierte, aus dem wir uns nie ganz befreien konnten.  Wir waren ein Produkt der Umstände.

Später, als wir älter waren, und ich anfing zu begreifen, wie konfus das Leben uns zerrüttet hatte, kam ich zwar auf die Idee, Veränderungen herbei zu führen, war aber zu sehr mit meiner eigenen Person beschäftigt, um mich dir mit der  Energie, die du benötigt hättest, um ein liebender Mensch zu werden, widmen zu können.

Vielleicht hätte ich dich retten können, so wie ich mich gerettet habe, vielleicht auch nicht. Diese Frage werde ich nie beantworten können. Deshalb nagst du an mir.
Sag mir, hast du das gewollt?
...




 
 
 
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